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Johannes Scotus Eriugena
Johannes Scotus Eriugena (auch Johannes Scottus Eriugena oder Johannes Scotus Erigena; * im frühen 9. Jahrhundert; † im späten 9. Jahrhundert) war ein westfränkischer Mönch keltisch-irischer Herkunft, der am Hof Karls des Kahlen (823-877) als Lehrer der Sieben Freien Künste wirkte und zahlreiche philosophische und theologische Werke verfasste. Seinem Unterricht legte er, wie damals üblich, das enzyklopädische Werk De nuptiis Philologiae et Mercurii („Die Hochzeit der Philologie mit Mercurius“) des Martianus Capella zugrunde, das er auch ausführlich kommentierte. Durch seine logisch saubere Gedankenführung in der theologischen Argumentation bereitete Scotus Eriugena bereits die scholastische Denkweise vor. Aufgrund seiner guten, wenn auch nicht hervorragenden Griechischkenntnisse, die damals nur sehr selten anzutreffen waren[1], konnte er viele Werke der griechischen Philosophen und Kirchenväter ins Lateinische übertragen und kommentieren und dadurch zugänglich machen und trug so vor allem zur Verbreitung des neuplatonischen Gedankenguts bei. Besonders bedeutsam war seine Übersetzung der aus tiefer Esoterik geschöpften Werke des Dionysius Areopagita, die die christliche Engellehre entscheidend prägten. Wesentliche Anregungen fand Eriugena auch bei Gregor von Nyssa (* um 335/340; † nach 394) und Maximus Confessor (* um 580; † 662). Eriugenas Hauptwerk, das in fünf Bücher gegliederte Periphyseon (griech. Περὶ φύσεων „Über Naturen“; Über die Einteilung der Natur), gibt reichen Aufschluss über sein Denken. In der Schule von Chartres wurden die Werke von Johannes Scottus Eriugena hoch geschätzt, aber wegen ihrer kühnen Gedankenführung später mehrfach verurteilt und viele Exemplare seiner Schriften verbrannt.
Inhaltsverzeichnis
Leben und Werk
Über das Leben des Eriugena - ein Beiname, den er sich möglicherweise selbst gegeben hat - ist wenig bekannt. Wegen seiner kühnen Thesen wurde er vielfach heftig angefeindet. Der Legende nach, deren historische Grundlage allerdings nicht fassbar ist und daher zweifelhaft bleibt, wurde später Scotus Erigena nach England berufen oder musste dorthin fliehen, wo er von seinen eigenen Schülern, möglicherweise auf Geheiß des Papstes, mit deren Schreibfedern(!) ermordert worden sein soll[2]. Sein Werk blieb wie durch ein Wunder großteils erhalten.
„Man könnte sagen, wie durch eine Art historischen Wunders ist ja eigentlich die Nachwelt dazu gekommen, die Schriften des Johannes Scotus Erigena zu kennen. Sie erhielten sich, im Gegensatz zu anderen Schriften aus den ersten Jahrhunderten, die ähnlich waren und die ganz verlorengegangen sind, bis ins 11., 12. Jahrhundert, einige wenige noch bis ins 13. Sie waren ja in dieser Zeit vom Papste als ketzerisch erklärt worden, es war der Befehl gegeben worden, daß alle Exemplare aufgesucht und verbrannt werden müßten. Nur viel später in einem verlorenen Kloster hat man Handschriften aus dem 11. und 13. Jahrhundert wieder gefunden. Im 14., 15., 16., 17. Jahrhundert wußte man ja von Johannes Scotus Erigena nichts. Die Schriften waren verbrannt worden wie ähnliche Schriften, welche Ähnliches enthielten aus derselben Zeit, und bei denen man eben vom Standpunkte Roms aus glücklicher war: man hatte alle anderen Exemplare dem Feuer übergeben können! Von Scotus Erigena blieben eben einzelne zurück.“ (Lit.:GA 204, S. 260)
„Diejenigen, die mehr oder weniger, wenn auch mit Scharfsinn und Geistreichigkeit, dem Rationalismus zugeneigt sind, die werden schon schimpfen, wenn sie das zu Gesicht, zum geistigen Gesichte bekommen, was etwa da ausströmte von dem Areopagiten, und was dann eine letzte bedeutende Offenbarung fand in diesem Erigena. Er war in den letzten Lebensjahren noch Benediktinerprior. Aber seine eigenen Mönche haben ihn, wie die Sage sagt - die Sage; ich sage ja nicht, daß das wörtlich wahr ist, aber wenn es nicht ganz wahr ist, so ist es annähernd wahr -, die haben ihn so lange mit Stecknadeln bearbeitet, bis er tot war, weil er noch den Plotinismus hereinbrachte in das neunte Jahrhundert. Aber über ihn hinaus lebten seine Ideen, die zugleich die weitere Fortbildung der Ideen des Areopagiten waren. Seine Schriften sind mehr oder weniger bis in späte Zeiten hinein verschwunden gewesen; sie sind dann ja doch auf die Nachwelt gekommen. Im 12. Jahrhundert ist Scotus Erigena als Ketzer erklärt worden. Aber das hat ja noch nicht eine solche Bedeutung gehabt wie später und wie heute. Trotzdem sind Albertus Magnus und Thomas von Aquino tief beeinflußt auch von den Ideen des Scotus Erigena.“ (Lit.:GA 74, S. 51)
„Die Lehren des Dionysius des Areopagyten hat Scotus in seinem Werke über die «Einteilung der Natur» weiter gebildet. Das war eine Lehre, die von dem über alles Sinnlich-Vergängliche erhabenen Gott ausgeht und von diesem die Welt ableitet (vgl. S. 154 f.). Der Mensch ist eingeschlossen in die Verwandlung aller Wesen zu diesem Gotte hin, der am Ende das erreicht, was er, vom Anfange an, war. In die durch den Weltprozeß hindurchgegangene und zuletzt vollendete Gottheit fällt alles wieder zurück. Aber der Mensch muß, um dahin zu gelangen, den Weg zu dem Fleisch gewordenen Logos finden. Dieser Gedanke führt bei Erigena schon zu dem andern: Was in den Schriften enthalten ist, die über diesen Logos berichten, das führt als Glaubensinhalt zum Heil. Vernunft und Schriftautorität, Glaube und Erkenntnis stehen nebeneinander. Eines widerspricht nicht dem andern; aber der Glaube muß bringen, wozu das Erkennen sich nie bloß durch sich selbst erheben kann.
Was im Sinne der Mysterien der Menge vorenthalten werden sollte, die Erkenntnis des Ewigen, das war für diese Vorstellungsart durch die christliche Gesinnung zum Glaubensinhalte geworden, der, seiner Natur nach, sich auf etwas dem bloßen Erkennen Unerreichbares bezog. Der vorchristliche Myste war der Überzeugung: ihm sei die Erkenntnis des Göttlichen und dem Volke der bildliche Glaube. Das Christentum wurde der Überzeugung: Gott hat durch seine Offenbarung die Weisheit dem Menschen geoffenbart; diesem kommt durch seine Erkenntnis ein Abbild der göttlichen Offenbarung zu. Die Mysterienweisheit ist eine Treibhauspflanze, die Einzelnen, Reifen, geoffenbart wird; die christliche Weisheit ist ein Mysterium, das als Erkenntnis Keinem, als Glaubensinhalt Allen geoffenbart wird. Im Christentum lebte der Mysterien-Gesichtspunkt fort. Aber er lebte fort in veränderter Form. Nicht der besondere Einzelne, sondern Alle sollten der Wahrheit teilhaftig werden. Aber es sollte so geschehen, daß man von einem gewissen Punkte der Erkenntnis deren Unfähigkeit erkannte, weiter zu gehen, und von da aus zum Glauben aufstieg. Das Christentum holte den Inhalt der Mysterien-Entwicklung aus der Tempeldunkelheit in das helle Tageslicht hervor. Die Eine gekennzeichnete Geistesrichtung innerhalb des Christentums führte zu der Vorstellung, daß dieser Inhalt in der Form des Glaubens verbleiben müsse.“ (Lit.:GA 8, S. 172f)
„In den ersten Jahrhunderten der Entwicklung des Christentums, zur Zeit der Kirchenväter, sehen wir den Lehrinhalt der Theologie Stück für Stück durch Aufnahme innerer Erlebnisse entstehen. Bei Johannes Scotus Erigena, der im neunten Jahrhunderte auf der Höhe der christlichen theologischen Bildung stand, finden wir diesen Lehrinhalt noch ganz wie ein inneres Erlebnis behandelt. Bei den Scholastikern der folgenden Jahrhunderte verliert sich vollkommen dieser Charakter eines inneren Erlebnisses; der alte Lehrgehalt wird zum Inhalte einer äußeren, übernatürlichen Offenbarung umgedeutet. — Man kann deshalb die Tätigkeit der mystischen Theologen Eckhart, Tauler, Suso und ihrer Genossen auch so auffassen, daß man sagt: sie wurden durch den Lehrgehalt der Kirche, der in der Theologie enthalten, aber umgedeutet war, angeregt, einen ähnlichen Gehalt als inneres Erlebnis aus sich selbst wieder aufs neue zu gebären.“ (Lit.:GA 7, S. 84f)
Periphyseon - Über die Einteilung der Natur
Johannes Scottus Eriugena gab seinem in 5 Bücher gegliederten Hauptwerk, das als Dialog eines Lehrers mit seinem Schüler geschrieben ist, den Titel Periphyseon (griech. Περὶ φύσεων „Über Naturen“); der lateinische Titel De divisione naturae (Über die Einteilung der Natur) stammt nicht von ihm und ist erst ab dem 12. Jahrhundert nachweisbar. Es beschreibt das Verhältnis des Schöpfers zu seiner Schöpfung, insbesondere zum Menschen, und die daraus resultierende kosmische Weltordnung in ihre gesamten Entwicklung vom Anfang bis zum Ende, die beide für Gott, der über Raum und Zeit steht, in eins zusammenfallen.
„Man läßt sich heute nicht gern darauf ein, etwa so etwas zu würdigen, wie das Werk über die Einteilung der Natur von Johannes Scotus Erigena im 9. Jahrhundert. Man läßt sich nicht darauf ein, weil man solch ein Werk nicht als ein historisches Denkmal nimmt aus einer Zeit, in der eben ganz anders gedacht wurde als heute, in der so gedacht wurde, wie man es gar nicht mehr versteht, wenn man solch ein Werk heute liest. Und wenn gewöhnliche Philosophen in ihrer Geschichtsschreibung solche Dinge darstellen, so hat man es eigentlich nur mit Worten zu tun. Ein Eingehen auf den eigentlichen Geist eines solchen Werkes, wie das von Johannes Scotus Erigena über die Einteilung der Natur, wobei Natur etwas ganz anderes bedeutet als das Wort Natur in der späteren Naturwissenschaft, ein Eingehen auf diesen Geist ist eigentlich nicht mehr da. Kann man bei geisteswissenschaftlicher Vertiefung doch darauf eingehen, so muß man sich merkwürdigerweise folgendes sagen: Dieser Scotus Erigena hat Ideen entwickelt, die auf einen den Eindruck machen, daß sie außerordentlich tief hineingehen in das Wesen der Welt, aber er hat diese Ideen ganz zweifellos in einer nicht zulänglichen, nicht eindringlichen Form in seinem Werke dargestellt. Wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen würde, gegenüber einem immerhin überragenden Werke der Menschheitsentwickelung respektlos zu sprechen, so würde man im Grunde eigentlich sagen müssen, daß schon Johannes Scotus Erigena selbst nicht mehr völlig gewußt hat, was er schreibt. Man sieht das seiner Darstellung an. Für ihn selber waren, wenn auch nicht in dem Grade, wie es für die heutigen Geschichtsschreiber der Philosophie der Fall ist, doch schon die Worte, die er aus der Tradition entnommen hat, mehr oder weniger nur Worte, deren tiefen Inhalt er selber nicht mehr einsah. Man ist eigentlich immer mehr genötigt, wenn man diese Dinge liest, in der Geschichte zurückzugehen. Und von Scotus Erigena wird man ja, das ist leicht ersichtlich aus seinen Schriften, unmittelbar geführt auf die Schriften des sogenannten Pseudo-Dionysius des Areopagiten. Ich will jetzt auf dieses Entwickelungsproblem nicht eingehen, wann der gelebt hat und so weiter. Und von diesem Dionysius dem Areopagiten wird man wiederum weiter zurückgeführt. Da muß man dann schon wirklich ausgerüstet mit Geisteswissenschaft weiterforschen, und man kommt endlich etwa, wenn man in das 2., 3. Jahrtausend vorchristlicher Zeit zurückgeht, zu tiefen Einsichten, die eben der Menschheit verlorengegangen sind, die eben nur in einem schwachen Nachklange vorhanden sind in solchen Schriften wie denen von Johannes Scotus Erigena.“ (Lit.:GA 326, S. 116f)
„Es ist außerordentlich wichtig, einmal genau hinzusehen, wie die Gliederung der Erkenntnis bei Johannes Scotus Erigena war. Er unterscheidet in seiner großen Schrift über die Gliederung der Natur, die eben auf die geschilderte Weise auf die Nachwelt gekommen ist, in vier Kapiteln dasjenige, was er über die Welt zu sagen hat, und er spricht zuerst im ersten Kapitel von der nichtgeschaffenen und schaffenden Welt (siehe Darstellung S. 262). Das ist das erste Kapitel, das schildert in der Art, wie Johannes Scotus Erigena dies glaubt tun zu können, gewissermaßen Gott, wie er war, bevor er herangetreten ist an irgend etwas, das Weltschöpfung ist. Johannes Scotus Erigena schildert da durchaus so, wie er es, ich möchte sagen, gelernt hat durch die Schriften des Dionysius, und er schildert, indem er höchste Verstandesbegriffe ausbildet, aber zu gleicher Zeit sich bewußt ist, mit denen kommt man nur bis zu einer gewissen Grenze, jenseits welcher die negative Theologie liegt. Man nähert sich also nur dem, was eigentlich wahres Wesen des Geistigen, des Göttlichen ist. Wir finden da in diesem Kapitel unter anderem die schöne, für die heutige Zeit noch lehrreiche Abhandlung über die göttliche Trinität. Er sagt, wenn wir die Dinge um uns herum anschauen, so finden wir zuerst als allgeistige Eigenschaft das Sein (siehe S. 262). Dieses Sein ist gewissermaßen das, was alles umfaßt. Wir sollten Gott nicht das Sein, so wie es die Dinge haben, beilegen, aber wir können doch nur gewissermaßen, indem wir hinaufschauen auf das, was Übersein ist, doch nur zusammenfassend vom Sein der Gottheit sprechen. Ebenso finden wir, daß die Dinge in der Welt von Weisheit durchstrahlt und durchsetzt sind. Wir sollten Gott nicht bloß Weisheit, sondern Überweisheit beilegen. Aber eben, wenn wir von den Dingen ausgehen, kommen wir bis zu der Grenze des Weisheitsvollen. Aber es ist nicht nur Weisheit in allen Dingen: Alle Dinge leben; es ist Leben in allen Dingen. Wenn also Johannes Scotus Erigena sich die Welt vergegenwärtigt, so sagt er: Ich sehe in der Welt Sein, Weisheit, Leben. Die Welt erscheint mir gewissermaßen in diesen drei Aspekten als seiende, als weisheitsvolle, als lebendige Welt. Gleichsam sind ihm das drei Schleier, die sich der Verstand ausbildet, wenn er über die Dinge hinblickt. Man müßte durchsehen durch die Schleier, dann würde man in das Göttlich- Geistige hineinsehen. Aber er schildert zunächst die Schleier und sagt: Wenn ich auf das Sein sehe, so repräsentiert mir das den Vater; wenn ich auf die Weisheit sehe, so repräsentiert mir das den Sohn im All; wenn ich auf das Leben sehe, so repräsentiert mir das den Heiligen Geist im All.“ (Lit.:GA 204, S. 261ff)
„Mir scheint die Eintheilung der Natur vier unterschiedene Formen anzunehmen. Sie theilt sich zunächst in eine solche, welche schafft und nicht geschaffen wird; sodann in eine solche, welche geschaffen wird und schafft; zum Dritten in eine solche, welche geschaffen wird und nicht schafft; zum Vierten in eine solche, welche nicht schafft und nicht geschaffen wird. Von diesen vier Theilungen stehen sich je zwei einander entgegen, die dritte der ersten, die vierte der zweiten. Aber die vierte fällt unter Unmögliches, da ihr Unterscheidendes darin besteht, dass sie nicht sein kann.“
„Für ihn stellt sich die Welt als eine Entwickelung in vier «Naturformen» dar. Die erste ist die «schaffende und nicht geschaffene Natur». In ihr ist der rein geistige Urgrund der Welt enthalten, aus dem sich die «schaffende und geschaffene Natur» entwickelt. Das ist eine Summe von rein geistigen Wesenheiten und Kräften, die durch ihre Tätigkeit erst die «geschaffene und nicht schaffende Natur» hervorbringen, zu welcher die Sinnenwelt und der Mensch gehören. Diese entwickeln sich so, daß sie aufgenommen werden in die «nicht geschaffene und nicht schaffende Natur», innerhalb welcher die Tatsachen der Erlösung, die religiösen Gnadenmittel usw. wirken.“ (Lit.:GA 18, S. 88)
Die Ordnung der Natur „fängt bei der erhabensten, zunächst in Gott gesetzten, reinen Verstandeskraft an und steigt bis zur äussersten Grenze der vernünftigen und vernunftlosen Kreatur herab oder, deutlicher zu reden, vom höchsten Engel bis zum letzten Theile der vernünftigen oder vernunftlosen Seele, dem nährenden und Wachsthum fördernden Leben nämlich; denn dieser letzte Theil der allgemeinen Seele ist es, der den Körper nährt und wachsen lässt.“[4] Die unterste Grenze bildet die Körperwelt. In der Stufenordnung der himmlischen Hierarchien folgt Eriugena Dionysius Areopagita:
„Es giebt aber drei solcher sogenannten Stufenordnungen. Die erste umfasst die Cherubim, die Seraphim und die Throne; die zweite die Kräfte, die Mächte und die Herrschaften; die dritte die Fürstenthümer, die Erzengel und die Engel.“
Der nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffene Mensch, so schreibt Eriugena, überspannt aber diesen ganzen Bereich:
„Denn der Mensch ist, wie wir gesagt haben und noch oft genug wiederholen werden, in solcher Würde der geschaffenen Natur gebildet worden, dass es keine sichtbare oder unsichtbare Natur giebt, die nicht in ihm gefunden würde. Er ist nämlich aus den beiden allgemeinen Theilen der geschaffenen Natur, der sinnlichen und gedankenhaften, in wunderbarer Vereinigung zusammengesetzt, d. h. er ist aus den äussersten Enden der ganzen Kreatur verbunden.“[6]
Genauer gesprochen ist es die dreigliedrige, denkende bzw. vorstellende menschliche Seele, die nach dem Bild Gottes geschaffen wurde, nicht aber jener Teil der Seele, die das Leben erhält (also der Ätherleib) und noch weniger der sterbliche physische Leib, der für Eriugena auf der untersten Stufe des Geschaffenen steht und der Sünde verfallen ist.
„Wenn aber Jemand die Eigenthümlichkeit der griechischen Sprache aufmerksam betrachtet, so wird er im Menschen zwei Sinne vertreten finden, sofern hier das Denken als „nûs,“ die Vernunft als „logos“ und nicht der äussere, sondern der innere Sinn als „dianoia“ bezeichnet wird. In diesen dreien aber besteht die Wesendreiheit der nach dem Bilde Gottes geschaffenen Seele; denn sie besitzt Denken, Vernunft und innern oder wesenhaften Sinn, während der äussere Sinn, den wir das Band des Körpers und der Seele genannt haben, als Grundlage die ihm eigenthümlichen Werkzeuge gewissermassen als Wächter des Sinnes besitzt, sofern in den sogenannten fünf Sinnen, dem Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen, der Sinn gehütet wird und wirksam ist.“[7]
Eriugena will damit keineswegs ausdrücken, dass der Mensch im Paradies nur die dreigliedrige Seele, aber keinen Leib gehabt hätte; doch das sei kein sterblicher, sondern ein himmlischer geistiger Leib gewesen. Auf einmal und zugleich habe der Schöpfer im Paradies unsere Seelen und Leiber geschaffen, himmlische und geistige Leiber nämlich, wie sie nach der Auferstehung sein werden. Christus sei in die Welt gekommen, um diesen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen:
„Denn in dieser Dreiheit erkennen wir das ausgeprägte Bild der höchsten und heiligsten Dreiheit. Von der Lebensbewegung dagegen, durch welche die Seele den Körper nährt, einigt, belebt, besorgt und wachsen lässt, sowie vom Körper selbst, der den letzten Platz in der ganzen Creatur einnimmt, wird im vierten Buche zu reden sein, wo wir (so Gott will) auf die sinnlichen Naturen kommen werden. Weil dieser Theil als ein solcher erkannt wird, der ausserhalb der Eigenthümlichkeit unserer denkenden Wesenheit liegt, worin wir nach Gottes Bilde geschaffen sind, ist er von uns für jetzt übergangen worden, zumal er eine ausserhalb unser ursprünglichen Natur fallende Bewegung ist, welche als Strafe für die Sünde zur wesenhaften Wirksamkeit unsers inneren Sinnes hinzugefügt ist, sofern der Körper mittelst dieser Bewegung dasjenige besorgt, was die menschliche Natur seit der Sünde überkommen hat. Ich meine diesen vergänglichen und sterblichen Körper, der sich räumlich und zeitlich verändert und in einzelne Theile zerfällt, der sich räumlich ausdehnt, dem Wachsthum und der Abnahme unterworfen, mit verschiedenen Eigenschaften und Grössenbestimmungen behaftet, zu allen unvernünftigen Bewegungen geneigt und eine Herberge der noch fleischlichen Seele ist, die mit Recht den mancherlei Folgen ihres Stolzes und Ungehorsams anheimfällt, und was von der Unseligkeit der aus ihrem Paradiesesglücke in dieses Leben versetzten menschlichen Natur noch weiter gesagt und erfahrungsmässig erkannt werden kann. Vernünftiger Weise bleibt also ausserhalb der Grenzen unserer Wesensdreiheit diejenige Bewegung der menschlichen Natur liegen, wodurch das ihr zur Strafe für den Abfall vom göttlichen Gebote Zuge theilte besorgt wird, worunter ich diejenige Strafe verstehe, die nicht als Rache des zürnenden, sondern als Maassregel des erbarmenden Gottes anzusehen ist. Wähne jedoch nicht, ich wolle hiermit lehren, jene vor der Sünde des Menschen im Paradiese nach Gottes Bilde gegründete Dreiheit der menschlichen Natur hätte ganz und gar des Körpers entbehrt. Fern sei es von mir, so etwas zu sagen oder zu glauben. Denn auf einmal und zugleich hat der Schöpfer im Paradies unsere Seelen und Leiber geschaffen, himmlische und geistige Leiber nämlich, wie sie nach der Auferstehung sein werden. Die feisten, vergänglichen und sterblichen Leiber freilich, von denen wir dermalen be schwert sind, haben zweifellos nicht von Natur, sondern in Folge des Sündenfalles ihre Veranlassung gehabt. Was also in Folge dessen der Natur zugewachsen ist, diess wird die in Christus erneuerte und in ihren frühern Zu stand zurückgeführte Natur entbehren. Kann doch mit der Natur dasjenige nicht gleichewig sein, was ihr um der Sünde willen anhängt und nicht zu ihren wesentlichen Zuständen gerechnet werden kann. Es ist darum auch Wohl ganz in der Ordnung, dass jenes Hinzugetretene auch wiederum nicht sowohl untergehe, als vielmehr in jenes ursprünglich Geschaffene übergehe und Eins mit ihm werde, ein einziges Unkörperliches nämlich durch die Gnade des göttlichen Wortes, welches ja nicht etwa blos in unser natürliches, sondern zugleich auch in jenes erst hinzugetretenes Wesen herabgekommen war, damit der Vereiniger von Beidem in ihm selber alles Unsrige wieder herstellen und dem noch Hinzugefügten einpflanzen möge.“[8]
Auch die Gottheit - als Urbild des Menschenwesens - offenbart sich in dreifältiger Gestalt:
„Gleichwohl haben die Theologen mit richtigem Scharfblick aus dem, was ist, ergründet, dass sie sei; dass sie aber weise sei, aus der Vertheilung der Wesen in Gattungen, Arten, Unterschiede und Einzelheiten; dass sie lebendig sei, aus der ständigen Bewegung, wie aus dem beweglichen Zustande von Allem. Auf ebendieselbe Weise hat man sehr richtig gefunden, dass die All-Ursache dreifach bestehe. Denn aus dem Sein dessen, was ist, wird erkannt, dass sie ist; aus der wunderbaren Ordnung der Dinge, dass sie weise ist, und aus der Bewegung hat man gefunden, dass sie Leben ist. Als ursachliche und schöpferische Natur von Allem ist sie also und ist weise und lebt. Und demgemäss haben die Ergründer der Wahrheit überliefert, dass unter ihrem Sein der Vater, unter ihrer Weisheit der Sohn, unter ihrem Leben der h. Geist verstanden sei [...]
... so sind [...] von den h. Theologen die Glaubensbekenntnisse aufgestellt und überliefert worden, damit wir im Herzen glauben und mit dem Munde bekennen, dass die göttliche Güte in drei Bestandheiten einer einzigen Wesenheit bestehe. Und zwar ist dies nicht ohne Berücksichtigung übersinnlicher Erkenntniss und vernünftiger Forschung geschehen. Indem sie nämlich, vom göttlichen Geist erleuchtet, die Eine unaussprechliche All-Ursache und den Einen einfachen und untheilbaren Ausgangspunkt ins Auge fassten, haben sie dies Einheit genannt. Indem sie weiterhin die Einheit selbst nicht in leerer Vereinzelung, sondern in wunderbar fruchtbarer Vielheit anschauten, haben sie drei Bestandheiten der Einheit gedacht: eine ungezeugte, eine gezeugte und eine hervorgehende. Das Verhalten der ungezeugten Bestandheit zur gezeugten nannten sie Vater; das Verhalten der gezeugten Bestandheit zur ungezeugten nannten sie Sohn; das Verhalten der hervorgehenden Bestandheit zur ungezeugten und gezeugten nannten sie heiliger Geist.“
Erkennen und Schaffen sind für Gott ein und dasselbe:
„Die Worte also: „im Glanze der Heiligen erzeugte Gott aus seinem Schoosse seinen Sohn“ wollen nichts anders bedeuten, als dass er in seinem eingeborenen Sohne die Erkenntniss der künftigen Heiligen zeugte oder vielmehr sie selber schuf. In der Weisheit des Vaters ist nämlich die Erkenntniss der Heiligen gerade ihre Schöpfung. Denn das Denken derselben ist bei Gott eben die Wesenheit derselben, sintemal bei Gott vor dem Werden dessen, was er thut, das Erkennen eins und dasselbe ist mit dem Machen dessen, was er erkennt. Denn Erkennen und Thun sind bei Gott eins und dasselbe; erkennend ist er thätig und im Thätigsein erkennt er. Das Erkennen geht bei ihm nicht dem Thun vorher, noch das Thun dem Erkennen, weil ausser dem Verhältniss des Schaffenden und Geschaffenen Alles zugleich und auf einmal gleichewig ist.“
Die Gottheit in ihrer dreifältigen Gestalt schafft aus dem Nichts und das von ihr Geschaffene entfaltet sich in fünf Stufen, die vom bloßen Sein (Mineralreich), über das Leben (Pflanzen), die Sinnlichkeit (Tiere) und Vernunft (Mensch) bis zum reinen Denken der Engel reichen, zu deren Erkenntnishöhe sich aber der Mensch im wirklichen Erkennen zu erheben vermag (s.u.).
„Als ungeschaffene Schöpferin aller Dinge hat die höchste Dreiheit Alles, was sie schuf, aus Nichts gemacht; denn es ist die Eigenthümlichkeit der göttlichen Güte, was sie werden lassen will, aus dem Nichtsein in's Sein zu rufen... Alles, was natürlicher Weise besteht, ist durch die fünffache Bewegung der gesammten Creatur vom Schöpfer in's Dasein gerufen. Einiges nämlich wurde gerufen, um nur wesentlich zu bestehen ; Anderes, um zu bestehen und zu leben; in Anderem ist zum wesentlichen Leben der Sinn hinzugetreten; in Anderem wiederum tritt zum Lebenssinne die Vernunft, in Anderem endlich ist zur Vollendung der erwähnten natürlichen Bewegungen das Denken hinzugekommen. Die erste Art dieser Bewegungen findet sich in den Naturkörpern, die zweite im Lebensbereiche des pflanzlichen Wachsthums, die dritte in den vernunftlosen Thieren, die vierte wird eigenthümlich in der menschlichen und die fünfte in der engelischen Natur angetroffen. In diesen fünff Stufen wird bei der Erschaffung der Dinge aus Nichts die Güte der höchsten und heiligen Dreiheit erkannt und die unaussprechliche Wirksamkeit derselben offenbar.“
Gott selbst, sagt Eriugena, weiß nicht was er ist, da er selbst grenzenlos und jenseits jeder Bestimmbarkeit ist und alles in ihm in ungeschiedener Ganzheit in Eins zusammenfällt. Dieses „Nichtwissen“ ist aber zugleich die höchste und wahre Weisheit, das unbegreifliche und unendliche Wissen Gottes selbst:
„Wenn wir sagen, Gott wisse nicht, was er sei, wollen wir damit wohl. etwas Anderes andeuten, als dass er sich. in keinem von Allem, was ist, begreife? Denn wie könnte er in ihm selber Etwas erkennen, was in ihm selber nicht sein kann? Sind doch die Gründe Alles dessen, was Gott in sich selber, d. h. der Vater im Sohne, geschaffen hat, ungetheilt in ihm Eins; sie gestatten keine Bestimmung der eigenthtimlichen Bestandheiten durch eigenthümliche Unterschiede oder zufällige Bestimmungen, indem sie dergleichen nur in ihren Wirkungen, nicht aber in ihnen selber zulassen. Was ist dann aber von der unaussprechlichen und unbegreiflichen Natur selber zu halten? Wer möchte darin etwas durch eine Grenze Bestimmtes, im Raume Ausgedehntes, in Theile Getrenntes, aus Bestandheiten und zufälligen Bestimmungen Zusammengesetztes denken? Das göttliche Nichtwissen ist also die höchste und wahre Weisheit.“
„Sie sehen, Johannes Scotus Erigena geht durchaus von philosophischen Begriffen aus und erhebt sich zu dem, was die christliche Trinität ist. Er macht also den Weg im Inneren noch durch, vom Begreifen ausgehend, in das sogenannte Unbegreifliche hinein. Das ist auch durchaus seine Überzeugung. Aber er redet eben so, daß man der Art und Weise, wie er die Dinge gibt, ansieht, daß er von Dionysius gelernt hat. Er möchte eigentlich in dem Momente, wo er zu Sein, Weisheit, Leben kommt, und ihm diese repräsentieren Vater, Sohn und Geist, er möchte eigentlich diese Begriffe auseinanderschwimmen lassen in ein allgemeines Geistiges hinein, in das sich der Mensch dann überbegriffuch erheben müßte. Aber er schreibt dem Menschen nicht zu die Fähigkeit, zu solchem Überbegrifflichen zu kommen.
Damit ist Johannes Scotus Erigena ein Sohn seines Zeitalters, das den Verstand ausbildete, und das ja wirklich, wenn es sich selbst richtig verstand, sich sagen mußte, es könne nicht hineinkommen in das ÜberbegriffLiche.
Das zweite Kapitel schildert dann gewissermaßen eine zweite Schichte des Weltendaseins, die geschaffene und schaffende Welt (siehe S. 262). Das ist diejenige Welt der geistigen Wesenheiten, in der wir zu suchen haben Angeloi, Archangeloi, Archaiund so weiter. Diese Welt der geistigen Wesenheiten, die wir ja auch bei dem Dionysius dem Areopagiten verzeichnet finden, diese Welt der geistigen Wesenheiten schafft überall in der Welt, aber sie ist selbst geschaffen, sie ist von dem höchsten Wesen angefangen, also geschaffen, und sie schafft in allen Einzelheiten des Daseins, das uns umgibt.
Als dritte Welt im dritten Kapitel schildert er dann die geschaffene und nichtschaffende Welt. Das ist die Welt, die wir um uns herum mit unseren Sinnen wahrnehmen. Das ist die Welt der Tiere, Pflanzen und Mineralien, der Sterne und so weiter. In diesem Kapitel behandelt er ungefähr alles dasjenige, was wir nennen würden Kosmologie, Anthropologie und so weiter, dasjenige, was wir etwa heute bezeichnen als den Umfang des Wissenschaftlichen. In dem vierten Kapitel behandelt er die nichtgeschaffene und nichtschaffende Welt. Es ist wiederum dieses die Gottheit, aber so, wie sie sein wird, wenn alle Wesen, namentlich alle Menschen, zu ihr zurückgekehrt sein werden, wenn sie nicht mehr schaffend sein wird, wenn sie in sich aufgenommen hat in seliger Ruhe - so stellt sich ja Johannes Scotus Erigena das vor - alle diejenigen Wesen, die eben aus ihr hervorgegangen sind.
Nun, wenn wir diese vier Kapitel überschauen, so haben wir ja darinnen eigentlich, ich möchte sagen, etwas wie ein Kompendium alles Überlieferten, so wie es vorhanden war in den Weisheitsschulen, aus denen Johannes Scotus Erigena hervorgegangen ist. Wenn man dasjenige nimmt, was er schildert in dem ersten Kapitel, so haben wir etwa dasjenige, was man in seinem Sinne die Theologie genannt hat, die Theologie, die eigentliche Lehre von dem Göttlichen. Wenn man das zweite Kapitel nimmt, so hat man darinnen dasjenige, was er nennt Idealwelt, etwa in unserer heutigen Sprache, Ideal aber vorgestellt als wesenhaft. Er schildert ja nicht abstrakte Ideen, sondern eben Engel, Erzengel und so weiter, er schildert die ganze intelligible Welt, wie man es nannte, die aber nicht eine intelligible Welt wie die unsre war, sondern die eine Welt von lebendiger Wesenheit war, von lebendigen intelligiblen Wesenheiten. In dem dritten Kapitel schildert er, wie gesagt, dasjenige, was wir heute unsere Wissenschaft nennen würden, aber doch anders. Wir haben seit der Galilei-Kopernikus-Zeit, die ja später fällt, nicht mehr dasjenige, was man in der Zeit des Scotus Erigena Kosmologie oder Anthropologie nennt. Was man die Kosmologie nennt, ist durchaus noch etwas, das aus dem Geiste heraus beschrieben wird, ist etwas, das so beschrieben wird, daß geistige Wesenheiten die Sterne lenken, daß geistige Wesenheiten auch in den Sternen leben, daß die Elemente Feuer, Wasser, Luft, Erde durchsetzt werden von geistigen Wesenheiten. Also es ist etwas anderes, was da als Kosmologie geschildert wird. Jene materialistische Anschauungsweise, die seit der Mitte des 15. Jahrhunderts heraufgekommen ist, die gab es eben dazumal noch nicht, und was er etwa als Anthropologie hat, das ist auch etwas ganz anderes, als was wir heute etwa Anthropologie in unserem materialistischen Zeitalter nennen.
Da kann ich Ihnen ja etwas sagen, was außerordentlich charakteristisch ist für dasjenige, was bei Johannes Scotus Anthropologie ist. Er sieht den Menschen an und sagt: Der Mensch trägt zunächst das Sein in sich. Er ist also mineralisches Wesen, er hat in sich mineralisches Wesen. Also erstens: der Mensch ist ein mineralisches Wesen (siehe S. 262). Zweitens: der Mensch leibt und lebt wie eine Pflanze. Drittens: der Mensch empfindet als Tier. Viertens: der Mensch urteilt und schließt, macht Schlüsse als Mensch. Fünftens: der Mensch erkennt als Engel.
Nun, das ist selbstverständlich etwas in unserer Zeit Ungeheuerliches! Wenn Johannes Scotus Erigena von Urteilen, Schließen spricht, was man ja zum Beipiel auch macht in der Gerichtsstube, wenn man über jemanden aburteilen will, dann urteilt und schließt der Mensch als Mensch. Wenn er aber erkennt, wenn er erkennend eindringt in die Welt, dann verhält sich der Mensch nicht als Mensch, sondern als Engel! Ich will das zunächst aus dem Grunde sagen, um Ihnen zu zeigen, daß Anthropologie für diese Zeit noch etwas anderes ist als für die jetzige Zeit, denn, nicht wahr, es würde heute kaum irgendwo, nicht einmal an einer theologischen Fakultät gehört werden können, daß der Mensch erkennt als Engel. So daß man sagen muß: Dasjenige, was Johannes Scotus Erigena im dritten Kapitel schildert, das haben wir als unsere Wissenschaft nicht mehr. Es ist etwas anderes geworden bei uns. Wenn wir es mit einem Worte nennen wollten, das heute auf nichts Betriebenes anwendbar ist, so würden wir etwa sagen müssen: Geistige Lehre vom Weltall und dem Menschen, Pneumatologie.
Und dann das vierte Kapitel. Dieses vierte Kapitel enthält bei Johannes Scotus Erigena erstens die Lehre von dem Mysterium von Golgatha und die Lehre von dem, was der Mensch als die Zukunft zu erwarten hat, als seinen Hingang in die göttlich-geistige Welt, also dasjenige, was man etwa nach heutigem Gebrauche benennen würde Soteriologie, Soter ist ja der Heiland, der Erlöser, und die Lehre von der Zukunft, Eschatologie. Wir finden da behandelt die Begriffe von Kreuzigung, Auferstehung, von der Ausströmung der göttlichen Gnade, von dem Hingang des Menschen zur göttlichgeistigen Welt und so weiter.
Eines sollte Ihnen dabei auffallen, und das fällt einem ja wirklich auf, wenn man unbefangen ist, indem man so etwas wie dieses Werk «De divisione naturae» von Johannes Scotus Erigena, von der Gliederung der Natur, aufmerksam liest. Da ist von der Welt geredet durchaus als von etwas, das in geistigen Qualitäten erkannt wird. Man spricht vom Geistigen, indem man die Welt betrachtet. Und was ist nicht darinnen? Man muß ja auch auf das aufmerksam sein, was nicht in einer solchen Universalwissenschaft ist, wie sie da Johannes Scotus Erigena begründen will.
Sie finden bei Johannes Scotus Erigena ungefähr gar nichts von dem, was wir heute Soziologie nennen, Sozialwissenschaft und dergleichen. Man möchte fast sagen, es sieht so aus, als ob der Johannes Scotus Erigena den Menschen, wie er sich sie dachte, ebensowenig eine Sozialwissenschaft habe geben wollen, wie etwa, wenn irgendeine Tierart, die Löwenart oder die Tigerart, oder irgendeine Vogelart eine Wissenschaft herausgeben würde, sie auch nicht eine Soziologie herausgeben würde. Denn der Löwe würde nicht reden über die Art und Weise, wie er mit anderen Löwen zusammenleben soll, oder wie er zu seiner Nahrung kommen soll und so weiter; das ist ihm instinktmäßig gegeben. Ebensowenig können wir uns eine Soziologie der Spatzen denken. Spatzen könnten gewiß allerlei höchst Interessantes an Weltengeheimnissen von ihrem Gesichtspunkte aus hervorbringen, aber sk würden niemals eine Ökonomie, eine Ökonomielehre hervorbringen, denn das würden die Spatzen für das ganz Selbstverständliche ansehen, daß sie das tun, was ihnen eben ihr Instinkt sagt. Das ist das Eigentümliche: Indem wir bei Johannes Scotus Erigena so etwas noch nicht finden, sind wir uns klar darüber, daß er die menschliche Gesellschaft noch so ansah, als ob sie das Soziale aus ihren Instinkten hervorbrächte. Er weist hin gerade in seiner besonderen Art von Erkenntnis auf dasjenige, was in dem Menschen noch als Instinkt lebte, auf die Triebe, die Impulse des sozialen Zusammenseins. Über diesem sozialen Zusammensein ist dasjenige, was er schildert. Er schildert, wie der Mensch aus dem Göttlichen hervorgegangen ist, welche Wesenheiten über der Sinneswelt liegen. Er schildert dann, wie der Geist die Sinneswelt durchzieht, etwa in einer Art Pneumatologie, er schildert dasjenige, was in die Sinneswelt als Geistiges eingedrungen ist in seinem vierten Kapitel in der Soteriologie, in der Eschatologie. Aber er schildert nirgendwo, wie die Menschen zusammenleben sollen. Ich möchte sagen, alles ist herausgehoben über die Sinneswelt. Das war überhaupt ein Charakteristikum dieser älteren Wissenschaft, daß alles über die Sinneswelt hinausgehoben war.
Und vertieft man sich im geisteswissenschaftlichen Sinn in so etwas wie die Lehre des Johannes Scotus Erigena, so sieht man, er hat gar nicht mit denjenigen Organen gedacht, mit denen heute die Menschheit denkt. Man versteht ihn eben nicht, wenn man ihn verstehen will mit demjenigen Denken, das heute die Menschheit vollführt. Man versteht ihn nur, wenn man sich durch Geisteswissenschaft eine Anschauung errungen hat von dem, wie man mit dem Ätherleib denkt, mit demjenigen Leib, der als ein feinerer Leib dem groben sinnlichen Leib zugrunde liegt.
Also Johannes Scotus Erigena hat nicht mit dem Gehirn, sondern mit dem Ätherleib gedacht. Wir haben in ihm einfach einen Geist, der noch nicht mit dem Gehirn gedacht hat. Und alles dasjenige, was er niederschreibt, kommt zustande als Ergebnis des Denkens mit dem Ätherleib. Im Grunde genommen beginnt man erst nach seiner Zeit mit dem physischen Leib zu denken, und so recht eigentlich erst vom 15. Jahrhundert an. Was man gewöhnlich nicht sieht, ist daß sich wirklich das menschliche Leben als Seelenleben in dieser Zeit geändert hat, daß man wirklich, wenn man zurückgeht ins 13., 12., 11. Jahrhundert, auf ein Denken stößt, wie es der Johannes Scotus Erigena hatte, daß man da kommt an ein Denken, das noch nicht mit dem physischen Leib, sondern mit dem Ätherleib vollzogen worden ist. Dieses Denken mit dem Ätherleib, das sollte nicht hereinragen in die spätere Zeit, in der man scholastisch dialektisiert hat über starre Begriffe; da wurde dieses ältere Denken mit dem Ätherleib, das aber durchaus auch das Denken der ersten christlichen Jahrhunderte war, eben verketzert. Deshalb auch die Verbrennung der Schriften des Johannes Scotus Erigena.“ (Lit.:GA 204, S. 263ff)
Denken im Gespräch mit dem Engel
„Bei Johannes Scotus ist es so, daß er in diesem Zwiespalt lebt. Er kann bloß denken; aber wenn dieses Denken zum Erkennen wird, da fühlt er, da ist noch etwas da von den alten Mächten, welche den Menschen durchdrungen haben in der alten Art der Erkenntnis. Er fühlt den Engel, den Angelos in sich. Daher sagt er, der Mensch erkenne als Engel. Es war Erbstück aus den alten Zeiten, daß in dieser Zeit der Verstandeserkenntnis ein solcher Geist wie Scotus Erigena noch sagen konnte, der Mensch erkenne wie ein Engel. In den Zeiten der ägyptischen, der chaldäischen Zeit, in den älteren Zeiten der hebräischen Zivilisation würde niemand etwas anderes gesagt haben, als: Der Engel erkennt in mir, und ich nehme Teil als Mensch an der Erkenntnis des Engels. Der Engel wohnt in mir, der erkennt, und ich mache das mit, was der Engel erkennt. - Das war in der Zeit, als noch kein Verstand da war. Als dann der Verstand heraufgekommen war, da mußte man das mit dem Verstände durchdringen; aber es war eben in Scotus Erigena noch ein Bewußtsein von diesem Durchdrungensein mit der Angelosnatur.“ (Lit.:GA 204, S. 269f)
„Wenn du die wechselseitige Verbindung und Einheit der geistigen und vernünftigen Naturen aufmerksam betrachtest, so wirst du in der That finden, dass sowohl die englische Wesenheit in der menschlichen, als die menschliche in der englischen mitgegründet ist. In jeder vollzieht sich, was der reine Verstand auf das Vollkommenste erkennt, und wird in jeder eins und dasselbe bewirkt. So gross nämlich war die Gemeinschaft der englischen und menschlichen Natur und würde es auch geblieben sein, wenn der erste Mensch nicht gesündigt hätte, dass aus beiden Eins wurde, was auch bei den hervorragendsten Menschen, deren Erstlinge unter den Himmlischen sind, bereits zu geschehen beginnt. Denn der Engel entsteht im Menschen durch den Begriff des Engels, der im Menschen ist, und der Mensch entsteht im Engel durch den im Menschen gegründeten Begriff des Engels. Wer nämlich, wie ich sagte, den reinen Begriff hat, wird in dem, was er begreift. Die geistige und vernünftige Engelnatur ist also in der geistigen und vernünftigen menschlichen Natur ebenso geworden, wie die menschliche in der englischen durch gegenseitiges Begreifen, worin der Mensch den Engel und der Engel den Menschen begreift. Dies ist auch gar nicht wunderbar; denn auch wir selbst werden, indem wir uns mit einander unterreden, gegenseitig in einander verwandelt. Indem ich nämlich begreife, was du begreifst, werde ich dein Begriff und bin auf unaussprechliche Weise in dich aufgenommen worden. Ebenso wenn du rein begreifst, was ich durchaus begreife, wirst du mein Begriff und aus den beiden Begriffen wird einer, welcher aus dem, was wir beide lauter und unverweilt begreifen, gebildet ist. Nehmen wir ein Beispiel aus den Zahlen zu Hülfe, so begreifst du, dass die Sechszahl in ihren Theilen gleich ist, und ich begreife dies ebenso, und ich begreife deinen, wie du meinen Begriff begreifst. Unser beider Begriff wird ein durch die Sechszahl gebildeter einiger, und dadurch werde ich nicht blos in dir, sondern auch du in mir geschaffen. Denn wir sind nicht etwas Anderes, als unser Begriff, und unsere wahre und höchste Wesenheit ist ein Begriff, welcher sich in der Betrachtung der Wahrheit beurkundet. Dass aber solcher Begriff nicht blos in gleichwesentlichen, sondern auch in untergeordneten Naturen sich entwickeln kann, sobald die Liebe vermittelnd eintritt, dies lehren die Worte des Apostels, welcher die Meinung, als ob unser Begriff sichtbare Formen liebe, mit der Mahnung ablehnt: Werdet nicht gleich dieser Welt! In solchem Sinn wird also ganz sachgemäss gesagt, dass in gegenseitigem Begreifen der Mensch im Engel und der Engel im Menschen geschaffen werde, und dass auch der Engel dem Menschen in keinem Verhältniss irgendwie vorangehe, wird gleichfalls richtig geglaubt und eingesehen, mag auch nach der Darstellung des Propheten die Schöpfung der engelischen Natur, wie Viele wollen, früher oder später, als die Schöpfung der menschlichen Natur geschehen sein.“
Der Erde Dasein ist in mir begründet,
ich bin ihr Raum und bin auch ihre Zeit,
und was der Tag an Kraft in mir entzündet,
das nimmt sie auf in ihre Ewigkeit.
Ich bin die Welt, in meinem Pulsgetriebe
sagt dies mir laut und deutlich jeder Schlag,
und was mich ewig macht, das ist die Liebe,
mit der ein Gott erschuf den ersten Tag.
So sehr erlebt Eriugena also noch die geistige Wirklichkeit des Denkens, dass er sagen kann, dass der Engel in ihm - und zwar nicht als Abbild, sondern als Wirklichkeit - entsteht, wenn er ihn denkt und der Mensch nicht minder im Engel entsteht, wenn der Mensch den Begriff des Engels bildet! Und so für alle Wesen. Erkenntnis ist nicht bloß wesenloser Abglanz des Seins, sondern das wahre Sein selbst. In diesem Sinn ist es auch zu verstehen, wenn oben gesagt wurde, dass der Mensch als Bild und Gleichnis Gottes die gesamte Schöpfung umspannt.
„Denn die Gedanken der Dinge sind wahrhaft die Dinge selbst, wie der heilige Dionysius sagt: „die Erkenntniss des Seienden ist das Seiende selbst;“ aber ihre uranfänglichen Ursachen und Gründe werden durch Denkthätigkeit, nicht durch die Dinge selbst zur Vereinigung geführt.“
Mensch und Engel stehen damit für Eriugena auf gleicher Stufe; eben dadurch können sie einander wechselseitig erkennen. Doch ist diese Erkenntnis, wie auch ihre jeweilige Selbsterkenntnis, niemals vollständig. Denn um sich selbst vollständig erkennen, d.h. definieren, umgrenzen zu können, müsste man sich selbst überragen:
„Ich glaube, dass Keiner von Beiden sich selber, noch auch Einer den Andern definieren kann. Denn wenn der Mensch sich selber oder einen Engel definiert, so ist er grösser als er selber oder als der Engel; denn das Definierende ist ein Grösseres als das Definierte. Dasselbe findet beim Engel statt. Ich glaube deshalb, dass diese Beiden allein von Dem, der sie nach seinem Bilde geschaffen hat, definiert werden können.“
Der Mensch schaut als Erzengel
Für das mit dem 15. Jahrhundert beginnenden Bewusstseinsseelenzeitalter muss der Gedanke Eriugenas weitergeführt werden, wenngleich das in unserem materialistischen Zeitalter zunächst paradox scheinen mag: Der Mensch denkt als Engel, aber er schaut als Erzengel:
„Wenn man hört, wie Scotus Erigena sagt, der Mensch ist als ein mineralisches Wesen, leibt und lebt als Pflanze, empfindet als Tier, urteilt und schließt als Mensch, erkennt als Engel - was Scotus Erigena noch wußte durch Tradition der alten Zeiten -, so müßten wir, die wir uns aber aufschwingen zur Geist-Erkenntnis, ja nun weitergehen. Wir müßten sogar jetzt sagen: Gut, der Mensch ist als ein mineralisches Wesen, der Mensch leibt und lebt als Pflanze, der Mensch empfindet als Tier, der Mensch urteilt und schließt als Mensch, der Mensch erkennt als Engel und sechstens: der Mensch schaut - nämlich imaginativ die geistige Welt - als Erzengel. Und wir müßten uns nunmehr zuschreiben, wenn wir vom Menschen sprechen, seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts[16]: wir erkennen als Engel und entwickeln die Bewußtseinsseele durch Seelenkräfte des Schauens - unbewußt zunächst, aber doch als Bewußtseinsseele - als Erzengel.
Und so hätten wir das Paradoxon, daß im materialistischen Zeitalter die Menschen eigentlich in der geistigen Welt leben, höher geistig leben, als sie früher gelebt haben. Wir könnten etwa sagen: Ja, Scotus Erigena hat Recht, das Engelerlebnis lebt auf im Menschen; das Erzengelerlebnis lebt nun aber auch auf seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts. Wir wären also eigentlich in einer geistigen Welt.“ (Lit.:GA 204, S. 275)
„Sehen Sie, als Scotus Erigena noch lebte, da war der menschliche Verstand noch eine Kraft. Scotus Erigena empfand noch, daß der Engel in ihm erkennt. Er war immerhin bei den Besten noch eine Kraft, dieser menschliche Verstand. Seit der Mitte des 15. Jahrhunderts haben wir ja nur noch den Schatten dieses Verstandes, dieses Intellektes. Wir entwickeln die Bewußtseinsseele seit der Mitte des 15. Jahrhunderts; aber wir haben noch den Schatten des Verstandes. Wenn der Mensch heute seine Begriffe entwickelt, nun, er ist wahrhaftig weit genug entfernt von der Vorstellung, daß da ein Engel in ihm erkennt. Er denkt sich nun halt: Ich denke da etwas aus über die Dinge, die ich erfahren habe. Er redet jedenfalls nicht davon, daß da eigentlich ein geistiges Wesen vorhanden ist, das da erkennt, oder gar ein noch höheres geistiges Wesen, das er ist durch sein Selbstbewußtsein. Dasjenige, womit der Mensch heute die Dinge zu erkennen versucht, das ist der Schatten des Intellektes, wie er sich für die Griechen, zum Beispiel für Plato und Aristoteles, wie er sich selbst für die Römer noch herausgebildet hat, wie er selbst noch lebendig war für Scotus Erigena im 9. nachchristlichen Jahrhundert.
Aber gerade das, meine lieben Freunde, daß wir uns durch den Verstand nicht mehr zu beirren lassen brauchen, das kann uns weiterhelfen. Die Menschen laufen heute einem Schatten nach, dem Verstände in ihnen, dem Intellekt. Von dem lassen sie sich beirren, statt zu streben nach Imagination, nach Inspiration, nach Intuition, die nun wiederum in die geistige Welt, die eigentlich uns umgibt, hineinführen. Daß der Verstand schattenhaft geworden ist, das ist ja gerade gut. Aber wir haben zunächst mit diesem schattenhaften Verstände die äußere Naturwissenschaft gegründet. Wir müssen von ihm aus weiterarbeiten, und Gott ist zur Ruhe gekommen, damit er uns arbeiten lasse. Der vierte Zustand ist heute vollends da. Der Mensch muß sich nur dessen bewußt werden. Und ohne daß er sich dessen bewußt wird, kann nichts weiter sich bilden auf der Erde. Denn dasjenige, was die Erde als Erbstück empfangen hat, das ist dahin, das ist untergegangen. Neues muß gegründet werden.“ (Lit.:GA 204, S. 292f)
Dieses Neue, das begründet werden muss, ist auf die auf vollbewusstem geistigen Schauen basierende Geisteswissenschaft, die über die Imagination zur Inspiration und weiter zur Intuition voranschreitet.
Gutachten zur Prädestination
Auf Wunsch Karls des Kahlen und im und im Auftrag des Erzbischofs Hinkmar von Reims verfasste Eriugena 850/51 ein Gutachten zu dem damals sehr heftig ausgetragenen Streit um die auf Augustinus zurückgehende Lehre der Prädestination, stieß aber mit seiner freimütigen Darstellung auf beträchtlichen Widerstand, sodass sich Hinkmar von ihm distanzierte und einzelne Thesen Eriugenas auf den Synoden von Valence (855) und von Langres (859) verurteilt wurden. Sein großer Gegner in diesem Disput war Gottschalk von Orbais.
„Ich habe ja öfter in solchen Vorträgen auf jenen schottischen Mönch, Scotus Erigena, aufmerksam gemacht, der im 9. Jahrhundert im Frankenlande am Hofe Karls des Kahlen gelebt hat und dort geradezu als ein Wunder der Weisheit angesehen worden ist. Karl der Kahle jedenfalls und alle, die seiner Meinung waren, wandten sich in allen religiösen und auch in allen wissenschaftlichen Fragen an Scotus Erigena, wenn sie irgend etwas entschieden haben wollten. Aber gerade an der Art, wie Scotus Erigena anderen Mönchen seiner Zeit gegenübersteht, sehen wir, wie dazumal der Kampf, ich möchte sagen, wütete zwischen der Vernunft, die sich nur auf die Sinneswelt und einige Schlüsse aus ihr beschränkt fühlte, und dem, was in Form von Dogmen von den übersinnlichen Welten überliefert war.
Und so sehen wir zwei Persönlichkeiten gerade im 9. Jahrhundert einander gegenüberstehen: Scotus Erigena und den Mönch Gottschalk, der in entschiedener Weise die Lehre geltend machte, Gott wisse vollkommen voraus, ob irgendein Mensch verdammt werde oder selig werde. Man prägte das allmählich in die Formel: Gott habe einen Teil der Menschen zur Seligkeit, einen anderen Teil der Menschen zur Verdammnis bestimmt. Man prägte diese Lehre in der Art, wie es ja Augustinus selbst schon gemacht hatte, nach dessen Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung ein Teil der Menschen zur Seligkeit, ein Teil zur Verdammnis bestimmt sei. Und Gottschalk, der Mönch, lehrte, es sei so: Gott habe einen Teil der Menschen zur Seligkeit und einen Teil zur Verdammnis bestimmt, keinen aber zur Sünde. Gottschalk lehrte also für das äußere Verständnis einen Widerspruch.
Der Streit tobte dazumal gerade im 9. Jahrhundert außerordentlich heftig. Auf einer Mainzer Synode zum Beispiel wurde die Schrift des Gottschalk geradezu als ketzerisch erklärt, und Gottschalk wurde ausgepeitscht wegen dieser Lehre. Dennoch, trotzdem Gottschalk ausgepeitscht und eingesperrt worden war wegen dieser Lehre, konnte er sich darauf berufen, daß er ja nichts anderes wollte, als die Augustinische Lehre in ihrer echten Gestalt herstellen. Man wurde auch aufmerksam darauf, namentlich französische Bischöfe und Mönche, daß Gottschalk eigentlich nichts anderes lehrte als das, was schon Augustinus gelehrt hatte. So stand gewissermaßen solch ein Mönch wie Gottschalk vor seiner Zeit so da, daß er aus den Traditionen des alten Mysterienwissens etwas lehrte, was diejenigen, die nun alles mit dem Verstande, der heraufdämmerte, begreifen wollten, eben nicht begreifen konnten und deshalb bekämpften, während die anderen, die mehr an der Ehrwürdigkeit des Alten festhielten, durchaus einem Theologen wie dem Gottschalk recht gaben.
Heute werden die Menschen außerordentlich schwer begreifen, daß über so etwas gestritten werden konnte. Es wurde aber nicht bloß gestritten. Man wurde dazumal wegen solcher Lehren, wenn sie der einen Partei nicht gefielen, öffentlich ausgepeitscht und eingesperrt, und zuletzt bekam man doch recht. Denn gerade die Rechtgläubigen stellten sich dann wiederum auf Gottschalks Seite, und die Lehre des Gottschalk blieb als die rechtmäßige katholische Lehre. - Karl der Kahle wandte sich selbstverständlich aus der ganzen Stellung, in der er zu Scotus Erigena war, an diesen, um eine Entscheidung für sich herbeizuführen. Scotus Erigena entschied nicht im Sinne von Gottschalk, sondern in dem Sinne, daß in der Entwickelung der Menschheit die Gottheit darinnensteckt, daß das Böse eigentlich nur scheinbar ein Etwas sein kann, sonst müßte ja das Böse in Gott stecken. Da Gott nur das Gute sein kann, so muß das Böse ein Nichts sein; das Nichts aber kann nicht etwas sein, mit dem die Menschen zuletzt vereinigt werden können. - So daß sich Scotus Erigena gegen den Gottschalk aussprach. Aber die Lehre des Scotus Erigena, die etwa dieselbe ist wie heute die der Pantheisten, ist von der rechtgläubigen Kirche dann wiederum verdammt worden, und die Schriften des Scotus Erigena wurden ja erst später wieder gefunden. Man hat alles verbrannt, was an ihn erinnerte; er galt als der eigentliche Ketzer. Und als er seine Anschauung bekanntmachte, die er Karl dem Kahlen vorgelegt hatte, da erklärte man auf der Seite der Gottschalkianer, die jetzt wiederum zur Anerkennung gekommen waren: Scotus Erigena ist eigentlich nur ein Schwätzer, der sich mit allerlei Federn der äußerlichen Wissenschaft schmückt, und der eigentlich von den inneren Geheimnissen des Übersinnlichen gar nichts weiß.“ (Lit.:GA 214, S. 48ff)
Abendmahlstreit
Eriugena bezog auch Stellung im Abendmahlstreit.
„Ein anderer Theologe schrieb über den Leib und das Blut Christi: «De corpore et sanguine domini.» Er sprach in dieser Schrift auch dasjenige aus, was für den alten Eingeweihten eine durchschaubare Lehre war: daß tatsächlich Brot und Wein verwandelt werden kann in den wirklichen Leib und in das wirkliche Blut Christi.
Wiederum wurde diese Schrift Karl dem Kahlen vorgelegt. Scotus Erigena schrieb nicht gerade eine Gegenschrift, aber in seinen Schriften haben wir vielfach Hinweise darauf, wie er sich entschieden hat, und da finden wir, daß diese Lehre, die ja die rechtgläubige katholische ist: daß Brot und Wein wirklich in den Leib und in das Blut Christi verwandelt wird, daß diese Lehre modifiziert werden müsse, weil man sie nicht einsehen könne. So sprach sich Scotus Erigena schon damals aus.“ (Lit.:GA 214, S. 50f)
„Es gab in den ältesten Zeiten bis zu dem 12. Jahrhundert nichts, was erhabener, feierlicher war für den Christen als das Abendmahl. Es sollte ein dankbares Erinnerungsopfer sein, ein Symbol für die Verinnerlichung des Christentums. Da kam jene Verweltlichung, jenes Unverständnis solchen hohen, geistigen Tatsachen gegenüber, vor allem den Festen gegenüber. Im 9. Jahrhundert lebte im Lande der Franken, am Hofe Karls des Kahlen, ein sehr bedeutender, christlicher Mönch aus Irland, Scotus Erigena, in dessen Buche «Von der Einteilung der Natur» wir eine Fülle von Geist und Tiefsinn finden, freilich nicht von dem, was das 20. Jahrhundert unter Wissenschaft versteht. Er hatte zu kämpfen gegen eine feindliche Richtung in der Kirche. Er verteidigte die alte Lehre, daß das Abendmahl die Versinnbildlichung des höchsten Opfers bedeutete. Eine andere, materielle Auffassung bestand und wurde von Rom protegiert, daß Brot und Wein sich wirklich in Fleisch und Blut verwandeln. Unter dem Einfluß der vor sich gehenden Vermaterialisierung entstand das Abendmahlsdogma, doch erst im 13. Jahrhundert wurde es offiziell.
Scotus mußte nach England flüchten und wurde auf Betreiben des Papstes im eigenen Kloster von den verbrüderten Mönchen hingemordet. Das sind Kämpfe, die sich nicht innerhalb der Kirche, sondern durch das Eindringen des weltlichen Einflusses abspielen.“ (Lit.:GA 51, S. 144)
Pythagoräismus
„Wer den Pythagoräismus studiert, wird ja leicht dazu verführt werden, zu glauben, da sei alles in der Welt so angesehen, wie wir es ansehen, nach Maß, Zahl und Gewicht. Aber gerade der charakteristische Unterschied, wie im Pythagoräismus bildhaft Maß, Zahl und Gewicht verwendet werden, und wie sie universell verwendet werden, wie gewissermaßen ganz menschlich, noch nicht abgesondert vom Menschen gefühlt wird, was in Maß, Zahl und Gewicht lebt, das kann uns schon darauf hinweisen, daß der Pythagoräismus nicht so arbeitete mit Maß, Zahl und Gewicht, wie später, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, damit gearbeitet worden ist, wie der Galileismus mit Maß, Zahl und Gewicht arbeitet. Und wer sich zum Beispiel vertieft in einen Geist des 9. Jahrhunderts - ich habe ihn vor kurzem einmal hier in einigen Vorträgen charakterisiert -, wer sich vertieft in Johannes Scotus Erigena, wer sich hineinliest in Scotus, der wird finden: so wie wir heute gewöhnt sind, aus chemischen, physikalischen Grundlagen heraus uns ein Weltengebäude aufzubauen und Anfang und Ende der Welt uns hypothetisch zu konstruieren aus dem, was wir im Messen, Zählen, Wägen gelernt haben, so ist das bei Scotus Erigena nicht. Es sondert der Mensch die Außenwelt bei Scotus Erigena nicht so weit von sich ab, und sich nicht von der Außenwelt. Er lebt mehr mit der Außenwelt zusammen, strebt noch nicht so nach Objektivität, wie man heute nach Objektivität strebt. Und so kann man sehen, wie das, was in all den Jahrhunderten seit der pythagoräischen Zeit im Griechentum sich entfaltete - und gerade an einem solchen Geist wie Scotus Erigena kann man es sehen -, sich dann in späteren Jahrhunderten ausgelebt hat. In dieser Zeit lebte im Grunde genommen die menschliche Seele in ganz andern Vorstellungen.“ (Lit.:GA 206, S. 173)
Siehe auch
- Johannes Scottus Eriugena - Artikel in der deutschen Wikipedia
- Johannes Scotus Eriugena - Artikel in Rudolf Eisler: Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1904)
Literatur
- Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870 pdf
- Wolf-Ulrich Klünker: Johannes Scotus Eriugena - Denken im Gespräch mit dem Engel, Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 1988, ISBN 978-3-7725-0826-4
- Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung, GA 7 (1990), ISBN 3-7274-0070-6 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums, GA 8 (1989), ISBN 3-7274-0080-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt, GA 18 (1985), ISBN 3-7274-0180-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Über Philosophie, Geschichte und Literatur, GA 51 (1983), ISBN 3-7274-0510-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Die Philosophie des Thomas von Aquino, GA 74 (1993), ISBN 3-7274-0741-7 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Perspektiven der Menschheitsentwickelung, GA 204 (1979), ISBN 3-7274-2040-5 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Menschenwerden, Weltenseele und Weltengeist – Zweiter Teil, GA 206 (1991), ISBN 3-7274-2060-X pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Das Geheimnis der Trinität, GA 214 (1999), ISBN 3-7274-2140-1 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Der Entstehungsmoment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seitherige Entwickelung, GA 326 (1977), ISBN 3-7274-3260-8 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz
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Weblinks
- Literatur von und über Johannes Scotus Eriugena im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Johannes Scotus Erigena: Über die Einteilung der Natur
Einzelnachweise
- ↑ Wo und wie sich Eriugena diese Griechischkenntnisse angeeignet hat, bleibt unklar. In den Klöstern seiner irischen Heimat besaß man zwar elementare Kenntnisse der griechischen Sprache, aber beweitem nicht auf dem Niveau Eriugenas. In seinem Denken zeigt er eine große Sympathie für die deutlich spirituellere griechische Ostkirche, die damals zwar noch nicht offiziell von der Westkirche geschieden, aber schon durch eine große geistige Kluft von ihr getrennt war. So wurde auf dem Viertes Konzil von Konstantinopel (869) die Lehre Photios I. verworfen und die Trichotomie, die Dreigliederung des Menschen in Leib, Seele und Geist als häretisch verurteilt - und damit der Geist des Menschen „abgeschafft“, wie es Rudolf Steiner oftmals ausdrückte. Ob es aber zu Kontakten Eriugenas mit Gelehrten der Ostkirche kam und Eruigena auch Reisen nach Byzanz oder Griechenland unternahm, liegt im Dunklen.
- ↑ Was vielleicht auch nur metaphorisch im Sinne einer Widerlegung seiner Schriften zu verstehen ist.
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 3f [1]
- ↑ Johannes Scottus Eriugena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Einteilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung S. 6
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 13f [2]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 128 [3]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 176 [4]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 178f [5]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 23f [6]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 163 [7]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 191 [8]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 209 [9]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Zweite Abtheilung, S. 61ff [10]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 133f [11]
- ↑ Johannes Scotus Erigena, Ludwig Noack (Übers.): Über die Eintheilung der Natur, Verlag von L. Heimann, Berlin 1870, Erste Abtheilung, S. 63 [12]
- ↑ Im gedruckten Text steht hier: 19. Jahrhundert. Dabei handelt es sich vermutlich um einen Fehler in der Nachschrift! Sinngemäß müsste es heißen: 15. Jahrhundert (vgl. dazu auch den folgenden Absatz).
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