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Aurora oder Morgenröte im Aufgang
Aurora oder Morgenröte im Aufgang, in Anspielung auf die Braut des Hohen Liedes, 6,10 ("Sag an, wer ist doch diese, die auf am Himmel geht"), ist der Titel des Erstlings- und Hauptwerkes des Mystikers, Pansophen, Theosophen, oder einfach nur tiefreligiösen Menschen Jakob Böhme, der als Schuster in Görlitz lebte, geschrieben 1612.
Dieses Werk stellt die religiöse Erfahrung Böhmes dar, die nicht bloß mystisch im Innern der Seele aufgeht, sondern zugleich auch die Sinne, die Natur, die Entwicklungen der Lebewesen und, konkret in diesem Werk vollzogen, auch die klanglichen Formungen des sprachlichen Ausdrucks durchläuft. Diese Erfahrung ist dem Autor nicht bloß passiv gegeben, sondern vollzieht sich als ein immer neuer, ewiger Geburtsprozess, so schmerzhaft wie schöpferisch, in dem "der Geist durchbricht". Längs dieses Geburtsprozesses entfalten sich die göttlichen Schöpfungskräfte in Gestalt der sieben "Qualitäten" oder "Quellgeister" und bringen einander und alle Natur durch eben diesen Geburtsprozess hervor. Die Naturseite dieser "Dynamik des Geisterreiches", wie der Böhmeverehrer Novalis es später nennen wird, wird traditionell Alchemie genannt; es ist Paracelsus, dessen medizinischen und naturphilosophischen, pansophischen und theosophischen Impulse in Böhmes "Qualitäten"-Entwicklung mitspielen. Übrigens entsteht die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz, eine kluge, von bunten Imaginationen gesättigte, selbstironische, gelehrt-lehrreiche Erzählung des Johann Valentin Andreae zur gleichen Zeit wie die Aurora, gleichfalls auf Paracelsus-Basis, aber Böhmes Werk lebt aus religiöser Erfahrung und Bibeldurchdringung, während Andreae eher narrativen Witz spielen lässt.
Biblische Grundlage für Böhmes synästhetische Versinnlichung des Übersinnlichen bzw. Formulierung des Unerhörten (1.Kor 2,9 aufgrund Jes 64,3: "Was das Auge nicht gesehen und das Ohr nicht gehört hat, was in des Menschen Herz nicht eingetreten ist, das hat uns Gott offenbart durch den Geist, denn der Geist erforscht alles, auch die Tiefen Gottes") ist vor allem das Motiv der "Jakobsleiter" (Gen 28,12), wie es im letzten Vers des ersten Kapitels des Johannesevangeliums aufgegriffen wird: "... ihr werdet die Engel auf- und niedersteigen sehen auf dem Menschensohn"; der Sohn ist dabei in beständiger Geburt aus dem Vater hervor, durch den Menschen hindurch, den Tod durchbrechend, und deshalb "Menschensohn", und zugleich durch alle Natur hindurch, sofern deren Leben und "Qualifizieren" im Menschen selbst seinen Ursprung und Quellpunkt findet: Der Mensch ist als Mitte der Natur geschaffen, da der schönste der Engel, der Lichtträger, der ursprünglich diese Mitte einnahm, in Selbstverliebtheit aufloderte und aus dem sanften Geburts-Keimkegel der Mitte gleichsam verschlackt und verhärtet, ausgefällt wurde bzw. durch seine Selbstverkennung und selbstverursachte Pervertierung herausfiel; den in seine Stelle hineingeschaffenen Menschen riss er dann deshalb voller Neid in den Sündenfall hinein, so dass Todesstarre die Lebenswandlungen umkammerte und verschloss, doch ist durch Christi Passion und Auferstehung dieses Gefängnis wieder aufgebrochen worden, so dass das Leben des neuen Adam wieder österlich-frühlingshaft aufkeimen kann.
Die außerordentliche Wirkung der Aurora auf Leibniz, später auf Goethe und auf den Deutschen Idealismus und dessen romantisches Umfeld, also Novalis, Schelling, Hegel, Philipp Otto Runge und deren Freundeskreise, beruht vor allem auf der Sprache Böhmes: Im beständigen Ringen um Versinnlichung des Übersinnlichen und um Ausdruck für das Unerhörte gewinnt er eine energische Plastizität, eine kraftvolle Originalität, die in ihrer poetischen Dichte nur noch den Sprüchen der Propheten und Psalmendichter vergleichbar ist. Vor allem aber vermag diese Sprache den Leser selbst zu entzünden, zu begeistern, den dort gestalteten, sich ringend immer neu gestaltenden Geburtsprozess in ihm selbst auszulösen, zu erwecken, zu verwirklichen. Christus in der Natur ist doch gewiss noch immer eines der größten Desiderate des christlichen religiösen Lebens.
Weblinks
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