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Begriffswahrnehmung
Die Begriffswahrnehmung oder Ideenwahrnehmung beruht auf der Tätigkeit des Denkens, denn dieses ist, wie Rudolf Steiner schon in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung gezeigt hat, im eigentlichen Sinn ein Auffassungsorgan, ein Wahrnehmungsorgan für Begriffe und Ideen, wobei Ideen nichts anderes als umfangreichere Begriffe sind und die einige und einzige Idee schlechthin die Totalität aller möglichen Begriffe, d.h. die Ideenwelt als Ganzheit umfasst. Die Tätigkeit des Denkens besteht nicht darin, Begriffe und Ideen zu produzieren, sondern diese im menschlichen Bewusstsein tätig zur Erscheinung zu bringen.
Inhaltsverzeichnis
[Verbergen]Das Denken als geistige Wahrnehmungstätigkeit
"Wenn die Welt bloß von Sinnenwesen bewohnt wäre, so bliebe ihr Wesen (ihr ideeller Inhalt) stets im Verborgenen; die Gesetze würden zwar die Weltprozesse beherrschen, aber sie kämen nicht zur Erscheinung. Soll das letztere sein, so muß zwischen Erscheinungsform und Gesetz ein Wesen treten, dem sowohl Organe gegeben sind, durch die es jene sinnenfällige, von den Gesetzen abhängige Wirklichkeitsform wahrnimmt, als auch das Vermögen, die Gesetzlichkeit selbst wahrzunehmen. Von der einen Seite muß an ein solches Wesen die Sinnenwelt, von der anderen das ideelle Wesen derselben herantreten, und es muß in eigener Tätigkeit diese beiden Wirklichkeitsfaktoren verbinden.
Hier sieht man wohl ganz klar, daß unser Geist nicht wie ein Behälter der Ideenwelt anzusehen ist, der die Gedanken in sich enthält, sondern wie ein Organ, das dieselben wahrnimmt. Er ist gerade so Organ des Auffassens wie Auge und Ohr. Der Gedanke verhält sich zu unserem Geiste nicht anders wie das Licht zum Auge, der Ton zum Ohr. Es fällt gewiß niemandem ein, die Farbe wie etwas anzusehen, das sich dem Auge als Bleibendes einprägt, das gleichsam haften bleibt an demselben. Beim Geiste ist diese Ansicht sogar die vorherrschende. Im Bewußtsein soll sich von jedem Dinge ein Gedanke bilden, der dann in demselben verbleibt, um aus demselben je nach Bedarf hervorgeholt zu werden. Man hat darauf eine eigene Theorie gegründet, als wenn die Gedanken, deren wir uns im Momente nicht bewußt sind, zwar in unserem Geiste aufbewahrt seien; nur liegen sie unter der Schwelle des Bewußtseins.
Diese abenteuerlichen Ansichten zerfließen sofort in nichts, wenn man bedenkt, daß die Ideenwelt doch eine aus sich heraus bestimmte ist. Was hat dieser durch sich selbst bestimmte Inhalt mit der Vielheit der Bewußtseine zu tun? Man wird doch nicht annehmen, daß er sich in unbestimmter Vielheit so bestimmt, daß immer der eine Teilinhalt von dem andern unabhängig ist! Die Sache liegt ja ganz klar. Der Gedankeninhalt ist ein solcher, daß nur überhaupt ein geistiges Organ notwendig ist zu seiner Erscheinung, daß aber die Zahl der mit diesem Organe begabten Wesen gleichgültig ist. Es können also unbestimmt viele geistbegabte Individuen dem einen Gedankeninhalte gegenüberstehen. Der Geist nimmt also den Gedankengehalt der Welt wahr, wie ein Auffassungsorgan. Es gibt nur einen Gedankeninhalt der Welt. Unser Bewußtsein ist nicht die Fähigkeit, Gedanken zu erzeugen und aufzubewahren, wie man so vielfach glaubt, sondern die Gedanken (Ideen) wahrzunehmen. Goethe hat dies [so] vortrefflich mit den Worten ausgedrückt: «Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.»" (Lit.: GA 002, S. 77f)
Die «Drei-Welten-Lehre» von Gottlob Frege
In der 1918 veröffentlichten Schrift «Der Gedanke» formulierte der deutsche Logiker, Mathematiker und Philosoph Gottlob Frege eine Drei-Welten-Lehre, die ihr Vorbild in der klassischen griechischen Philosophie mit ihrer Dreigliederung in Physis, Psyche und Logos hat. Eine ähnliche dreigliedrige Weltauffassung wurde auch von Sir Karl Raimund Popper und später von Roger Penrose vertreten. Frege unterscheidet in seiner Schrift die Welt der physischen Gegenstände, die Welt des (menschlichen) Bewusstseins und die Welt der an sich existierenden objektiven Gedankeninhalte, wie z.B. logische und mathematische Sätze. Der Gedanke an sich gehört weder der sinnlichen Aussenwelt, noch der innerlich erlebten Vorstellungswelt an.
„Ein drittes Reich muß anerkannt werden. Was zu diesem gehört, stimmt mit den Vorstellungen darin überein, daß es nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, mit den Dingen aber darin, daß es keines Trägers bedarf, zu dessen Bewußtseinsinhalte es gehört. So ist z. B. der Gedanke, den wir im pythagoreischen Lehrsatz aussprachen, zeitlos wahr, unabhängig davon wahr, ob irgendjemand ihn für wahr hält. Er bedarf keines Trägers. Er ist wahr nicht erst, seitdem er entdeckt worden ist, wie ein Planet, schon bevor jemand ihn gesehen hat, mit andern Planeten in Wechselwirkung gewesen ist.[1]“
Entsprechend unterscheidet Frege auch zwischen dem zeitlosen objektiven Gehalt des Gedankens und der subjektiven Form seines Auftretens im Bewusstsein, etwa als Vorstellung. Offen bleibt dabei zunächst noch die Frage, was die Wirklichkeit des objektiven Gedankens verbürgen könnte. Wie kann er überhaupt wirken, wenn er zeitlos und unveränderlich ist? Er wirkt, so antwortet Frege, indem wir ihn fassen, in uns und durch uns!
„Wie wirkt ein Gedanke? Dadurch, daß er gefaßt und für wahr gehalten wird. Das ist ein Vorgang in der Innenwelt eines Denkenden, der weitere Folgen in dieser Innenwelt haben kann, die, auf das Gebiet des Willens übergreifend, sich auch in der Außenwelt bemerkbar machen. Wenn ich z. B. den Gedanken fasse, den wir im pythagoreischen Lehrsatze aussprechen, so kann die Folge sein, daß ich ihn als wahr anerkenne, und weiter, daß ich ihn anwende, einen Beschluß fassend, der Beschleunigung von Massen bewirkt. So werden unsere Taten gewöhnlich durch Denken und Urteilen vorbereitet. Und so können Gedanken auf Massenbewegungen mittelbar Einfluß haben.“
Die selbsttätige wesenhafte geistige Wirklichkeit der Gedanken, durch die sie wirksam gestaltend in die Natur eingreifen, unabhängig davon, ob sie vom Menschen bewusst erfasst werden, konnte Frege damit allerdings noch nicht begreifen. Dazu blieb er noch zu sehr in seinen eigenen formal-abstrakten Vorstellungsbildern gefangen und weil er sich der Idee nicht erlebend gegenüberstellen konnte, verblieb er noch in ihrer Knechtschaft (Lit.: GA 004, S. 271).
Begriffswahrnehmung und Aufrichtekraft
Die Fähigkeit des Menschen, Begriffe tätig produktiv wahrnehmen zu können, ist an seine Aufrichtekraft gebunden.
"Das Ich erlebt in den Begriffswahrnehmungen die Begriffe; der Lebenssinn in seiner umgewendeten Art bringt die lebendigen Begriffe der höheren Geisteswelt hervor. In der physischen Welt können sie nur als Gestaltungskräfte wirken. Es ist doch gewiß klar, daß der Mensch die Fähigkeit der Begriffs Wahrnehmung seiner aufrechten Gestalt verdankt. Kein Erdenwesen außer ihm hat die Begriffswahrnehmung, keines die in gleicher Art aufrechte Gestalt. (Eine leichte Überlegung kann zeigen, daß bei Tieren, die eine scheinbar aufrechte Gestalt haben, diese auf anderes als innere Kräfte zurückzuführen ist.) So kann man in der Richtung von unten nach oben diejenige sehen, welche mit der Begriffswahrnehmung zusammenhängt, wenn der umgewendete Lebenssinn nicht dabei mitwirkt. Daraus darf auf eine Richtung von oben nach unten für den umgewendeten Lebenssinn geschlossen werden. Noch richtiger würde sein, zu sagen, auf eine Richtung nahezu von oben nach unten. Denn man sollte in der Wachstumsrichtung von unten nach oben etwas sehen, was dem umgewendeten Tastsinn entgegengesetzt ist. Insofern im Sinne der obigen Ausführungen das Ich einen Gegensatz zum Tastsinn darstellt, kann man die senkrechte Wachstumsrichtung des Leibes nach oben als Ich-Träger wie eine fortdauernde Überwindung des Gewichtes nach unten ansehen, was ja eine Umkehrung des Tasterlebnisses darstellt. Aus alledem kann auf einen Gegensatz des «oben-unten» und «unten-oben» im Menschenleibe so gedeutet werden, wie wenn eine Strömung von unten nach oben so stattfände, daß in ihr die Überwindung des von oben nach unten gehenden umgewendeten Lebenssinnes gegeben ist. Nun muß in diesem umgewendeten Lebenssinn das Hereinwirken der höheren Geisteswelt auf den physischen Menschenleib gesehen werden. Man kann somit sagen: der Menschenleib, insoferne er Ich-Träger ist, strebt nach oben; der physische Menschenleib, insoferne er in seiner Gestalt die Wirkung der höheren Geisteswelt zeigt, von oben nach unten. Insoferne leiblich der Mensch das Bild einer der höheren geistigen Welt angehörigen Wesenheit ausdrückt, kann man ihn aus der Durchdringung zweier Kraftrichtungen ansehen, als die Begegnung des Ich-Leibes mit dem physischen Leib. In seinem Ich-Erlebnis gehört der Mensch der physischen Außenwelt an, stellt aber zugleich dasjenige dar, was ein Bild gibt von dem in sich selbst zurückgestrahlten Erlebnis. Das ist ein Bild von dem, was als die in sich selbst ruhenden Sinneserlebnisse der höheren Geisteswelt charakterisiert worden ist. Im Leibe, insofern er Ich-Träger ist, darf somit ein Bild des sich selbst verinnerlichenden Stoffes gesehen werden." (Lit.: GA 045, S. 91ff)
Begriffswahrnehmung und Intuition
Eben weil die Begriffswahrnehmung nicht passiv erfolgt, sondern aktiv hervorgebracht werden muss, ist es auch kein Widerspruch, wenn Rudolf Steiner in seiner «Philosophie der Freiheit» von einem Entstehen der Begriffe durch das Denken spricht:
"Durch das Denken entstehen Begriffe und Ideen. Was ein Begriff ist, kann nicht mit Worten gesagt werden. Worte können nur den Menschen darauf aufmerksam machen, dass er Begriffe habe. Wenn jemand einen Baum sieht, so reagiert sein Denken auf seine Beobachtung; zu dem Gegenstande tritt ein ideelles Gegenstück hinzu, und er betrachtet den Gegenstand und das ideelle Gegenstück als zusammengehörig. Wenn der Gegenstand aus seinem Beobachtungsfelde verschwindet, so bleibt nur das ideelle Gegenstück davon zurück. Das letztere ist der Begriff des Gegenstandes. Je mehr sich unsere Erfahrung erweitert, desto größer wird die Summe unserer Begriffe. Die Begriffe stehen aber durchaus nicht vereinzelt da. Sie schließen sich zu einem gesetzmäßigen Ganzen zusammen. Der Begriff «Organismus» schließt sich zum Beispiel an die andern: «gesetzmäßige Entwicklung, Wachstum» an. Andere an Einzeldingen gebildete Begriffe fallen völlig in eins zusammen. Alle Begriffe, die ich mir von Löwen bilde, fallen in den Gesamtbegriff «Löwe» zusammen. Auf diese Weise verbinden sich die einzelnen Begriffe zu einem geschlossenen Begriffssystem, in dem jeder seine besondere Stelle hat. Ideen sind qualitativ von Begriffen nicht verschieden. Sie sind nur inhaltsvollere, gesättigtere und umfangreichere Begriffe...
Der Begriff kann nicht aus der Beobachtung gewonnen werden. Das geht schon aus dem Umstande hervor, dass der heranwachsende Mensch sich langsam und allmählich erst die Begriffe zu den Gegenständen bildet, die ihn umgeben. Die Begriffe werden zu der Beobachtung hinzugefügt." (Lit.: GA 004, S. 57)
Im höchsten Sinn ist die Idee ewig und einzig, wie es schon Goethe ausgedrückt hat. Sie gliedert die Vielzahl der einzelnen Begriffe der unteilbaren Ganzheit der kosmischen Ordnung ein.
„Die Idee ist ewig und einzig; daß wir auch den Plural brauchen, ist nicht wohlgetan. Alles, was wir gewahr werden und wovon wir reden können, sind nur Manifestationen der Idee; Begriffe sprechen wir aus, und insofern ist die Idee selbst ein Begriff.“
Durch das Denken tauchen wir mit unserem Bewusstsein in den Ideeninhalt der Welt ein. Dieser Inhalt ist dann tätig durch Intuition gegeben.
"Intuition ist das im rein Geistigen verlaufende bewußte Erleben eines rein geistigen Inhaltes." (Lit.: GA 004, S. 146)
Anmerkungen
- Hochspringen ↑ Man sieht ein Ding, man hat eine Vorstellung, man faßt oder denkt einen Gedanken. Wenn man einen Gedanken faßt oder denkt, so schafft man ihn nicht, sondern tritt nur zu ihm, der schon vorher bestand, in eine gewisse Beziehung, die verschieden ist von der des Sehens eines Dinges und von der des Habens einer Vorstellung.
- Hochspringen ↑ Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe, Bd. 18, S. 528
Literatur
- Rudolf Steiner: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung. 8. Auflage. Rudolf Steiner Verlag, Dornach 2002, ISBN 3-7274-0020-X; Tb 629, ISBN 978-3-7274-6290-0 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiners Wissenschaftsbegriff im Gespräch mit der Gegenwart. Beträge zu den >Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschaung<, mit Beiträgen von Günter Röschert, Lorenzo Ravagli, Reinhard Falter und Roland Halfen. Zeitschrift Die Drei, Beiheft 4/Juni 1991
- Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit, GA 4 (1995), ISBN 3-7274-0040-4 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
- Rudolf Steiner: Anthroposophie. Ein Fragment aus dem Jahre 1910, GA 45 (2002), ISBN 3-7274-452-3 pdf pdf(2) html mobi epub archive.org English: rsarchive.org
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